Jaguar XJ220 – Aufstieg, Fall und späte Rehabilitation eines britischen Supersportwagens
Als Jaguar 1988 auf der British International Motor Show den XJ220 präsentierte, schien es, als habe die britische Marke einen Platz in der Ahnenreihe der großen Supersportwagen gebucht. Die Silhouette war lang, flach und futuristisch, die Daten auf dem Papier überragend: Zwölfzylinder, Allradantrieb, 342 km/h Spitze. Doch die Serienrealität brachte ein anderes Auto hervor – technisch faszinierend, aber mit einem anderen Charakter als angekündigt.

Der „Saturday Club“ und die Geburt einer Vision
Der XJ220 entstand nicht im offiziellen Lastenheft von Jaguar, sondern im „Saturday Club“, einer Gruppe von Ingenieuren, die in ihrer Freizeit ein Traumauto entwarfen. Einflussreich war die Zusammenarbeit mit Tom Walkinshaw Racing, die zuvor den XJR-9 auf Le-Mans-Siege geführt hatten. Die Idee dahinter: Jaguar sollte nach Jahrzehnten wieder mit einem kompromisslosen Sportwagen im Gespräch sein. Das Konzeptfahrzeug zeigte einen V12 aus der Rennabteilung, kombiniert mit Allradtechnik und einer Karosserie, die in Größe und Eleganz alles in den Schatten stellte, was Ferrari oder Porsche damals bauten.

Jaguar XJ220/© JAGUAR LAND ROVER LIMITED
Vom Zwölfzylinder zum Biturbo-V6
Die Serienumsetzung fiel dann allerdings den Zwängen der Realität zum Opfer. Der V12 war zu schwer, zu durstig und zu kompliziert für die Emissionsvorschriften der frühen 1990er. Stattdessen griff Jaguar auf ein Triebwerk zurück, das in seiner Basis aus dem Rover Metro 6R4 Rallyeprogramm stammte: ein 3,5-Liter-V6 mit 90 Grad Zylinderwinkel, Vierventiltechnik und zwei Garrett-Turboladern. Das Aggregat leistete laut Jaguar 550 PS und 644 Newtonmeter Drehmoment und hatte zwar weniger Zylinder, aber dafür mehr Druck. Damit erreichte der XJ220 in Tests tatsächlich 341,7 km/h und war 1992 das schnellste Serienauto der Welt. Doch für viele Kunden überwog die Enttäuschung, dass aus dem angekündigten V12-Allrad ein V6-Hecktriebler geworden war.

Jaguar XJ220/© JAGUAR LAND ROVER LIMITED
Chassis, Fahrwerk und Bremsen – Le Mans für die Straße
Technisch war der XJ220 ein hochentwickeltes Auto. Die Struktur bestand aus einer Aluminium-Wabenkonstruktion mit integrierten Hilfsrahmen. Vorn und hinten kamen doppelte Querlenker zum Einsatz, abgestützt von inboard montierten Feder-Dämpfer-Einheiten – ein klarer Verweis auf Renntechnik. Die Bremsanlage mit belüfteten Scheiben und Vierkolben-Sätteln kam von AP Racing. Mit einem Leergewicht von rund 1.470 Kilogramm blieb der XJ220 trotz seiner Länge und Breite bemerkenswert leicht.

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Dimensionen eines Giganten
Die Karosserie von Keith Helfet verband fließende, glatte Linien mit konsequent auf geringen Luftwiderstand ausgerichteten Proportionen. Ein cw-Wert von 0,36 war für ein Supersportwagen dieser Größe respektabel. Charakteristisch waren die verdeckten Scheinwerfer, die weit nach hinten gezogenen Flanken und die große Glasfläche. Der Auftritt wirkte damit moderner als bei den kantigen Rivalen Ferrari F40 oder Bugatti EB110, weniger technisch als beim Porsche 959, aber nicht minder spektakulär.

Interieur – Luxus trifft Pragmatismus
Außen asketischer Leichtbau, innen britische Tradition: Jaguar stattete das Cockpit mit Leder, Teppichen und komfortablen Sitzen aus. Gleichzeitig war die Ergonomie nicht makellos: Der Fahrer saß weit innen, die Pedalerie war leicht versetzt, und die Übersicht nach hinten war praktisch nicht vorhanden. Dennoch bot der XJ220 im Vergleich zu Ferrari oder Lamborghini eine alltagstauglichere Anmutung. Klimaanlage, elektrische Fensterheber und eine serienmäßige Soundanlage waren ebenfalls an Bord.

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Fahrleistungen – schneller als sein Ruf
Trotz aller Kritik war der XJ220 objektiv eine Fahrmaschine von Rang. Jaguar selbst dokumentierte unter Testbedingungen 213 mph (342 km/h). Damit übertraf er Ferrari F40 und Porsche 959 und war das schnellste Auto seiner Zeit. Die Beschleunigung von null auf hundert lag bei unter vier Sekunden. Die Aerodynamik half bei hohen Geschwindigkeiten, während die massive Breite für Stabilität sorgte. Doch das Fahrverhalten war anspruchsvoll: Der Turbolader setzte mit brachialem Schub ein, die Lenkung verlangte Kraft, und die Dimensionen machten das Auto auf engen Straßen schwer beherrschbar.

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Marktversagen – zwischen Rezession und Enttäuschung
Zur Markteinführung war der XJ220 mit 470.000 Pfund eines der teuersten Autos der Welt. Doch die Rezession der frühen neunziger Jahre, verbunden mit den technischen Änderungen gegenüber dem Concept Car, führte zu massiven Stornierungen. Am Ende entstanden laut Jaguar-Archiv 275 Serienfahrzeuge zwischen 1992 und 1994. Damit liegt die offizielle Zahl leicht unter den oft zitierten 281 Exemplaren, die in Sammlerkreisen kursieren – letztere zählen vermutlich auch Vorserienfahrzeuge oder Chassis mit.

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Ein Ausflug nach Le Mans
Jaguar plante mit TWR auch einen Einsatz im Motorsport. Die Variante XJ220C trat 1993 in Le Mans an, mit modifiziertem V6 und abgespecktem Gewicht. Das Team erzielte einen Klassensieg in der GT-Kategorie, dieser wurde jedoch später wegen technischer Formalitäten aberkannt.

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Späte Rehabilitation – vom Ladenhüter zum Sammlerstück
Dreißig Jahre später sieht die Welt anders aus: Der XJ220 gilt heute als eines der technisch spannendsten Autos der frühen neunziger Jahre. Das Design ist zeitlos, die Fahrleistungen nach wie vor auf Supersportwagen-Niveau. Spezialisten wie Don Law Racing in Großbritannien kümmern sich um Ersatzteile, Service und Restaurierungen. Typische Schwachstellen wie alternde Tanks, Elektronikprobleme oder Reifen in Sonderdimensionen sind bekannt und lösbar.

Jaguar XJ220/© JAGUAR LAND ROVER LIMITED
Markt und Preisentwicklung heute
Auf Auktionen erzielen XJ220 inzwischen Preise zwischen 500.000 und 650.000 Euro, abhängig von Laufleistung und Historie. Besonders gut dokumentierte Exemplare mit geringer Kilometerzahl erzielen Höchstpreise. Bemerkenswert ist, dass trotz der geringen Produktionszahl regelmäßig Fahrzeuge angeboten werden – eine Folge davon, dass viele in Sammlungen standen und kaum bewegt wurden.
Historische Bedeutung – ein Lehrstück in Ambition und Realität
Der XJ220 steht in der Automobilgeschichte für den Konflikt zwischen Vision und Machbarkeit. Er zeigt, wie ambitionierte Ingenieursprojekte an Emissionsvorschriften, ökonomischen Rahmenbedingungen und Kundenerwartungen scheitern können. Gleichzeitig beweist er, dass ein Auto mit technischen Kompromissen objektiv dennoch Maßstäbe setzen kann. Er war das schnellste Auto seiner Zeit, ein stilistisches Meisterstück und ein Beispiel für britischen Ingenieursgeist, der sich nicht immer mit den Regeln des Marktes verträgt.
Heute wird der Jaguar XJ220 weniger als gescheitertes Projekt wahrgenommen, sondern als eigenständiges Kapitel der Supersportwagen-Geschichte. Er verkörpert die Spannung zwischen Ingenieurstraum und Marktlogik, bleibt ein Zeitdokument der frühen neunziger Jahre und hat sich als gesuchtes Sammlerstück mit unverwechselbarem Charakter etabliert.
Fotos: © JAGUAR LAND ROVER LIMITED 2025