Chevrolet Corvette SS XP-64 – Der heilige Gral der Corvette-Sammler
Im Januar 1953 wurde die erste Corvette stolz auf der Motorama Show von General Motors im Waldorf Astoria in New York City präsentiert. Die Corvette, der erste Sportwagen der Marke, wurde vom legendären Harley Earl konzipiert und entworfen und wurde anfangs von einem Reihensechszylinder der Marke Blue Flame mit Automatikgetriebe angetrieben. Für das erste Modelljahr wurden lediglich 300 Exemplare der Corvette mit Fiberglaskarosserie, alle in Polo-Weiß mit roten Schalensitzen, gebaut. Zachary „Zora“ Arkus-Duntov erkannte sofort das Leistungspotenzial dieses neuen Modells und schrieb persönlich dem damaligen Chevrolet-Chefingenieur Ed Cole, in dem er seinen Wunsch darlegte, für Chevrolet am Corvette-Programm zu arbeiten. Im Frühjahr des Jahres 1953 begann Arkus-Duntov seine Karriere bei Chevrolet als stellvertretender Ingenieur.
Zora Arkus-Duntov wurde 1909 in Brüssel geboren und hatte schon in jungen Jahren eine Leidenschaft für alles Mechanische. 1934 schloss er sein Maschinenbaustudium an der Universität Charlottenburg in Berlin ab. Später zog er nach Paris und diente im Zweiten Weltkrieg in der französischen Luftwaffe. Nach der Kapitulation Frankreichs flohen Zora und seine Familie nach Spanien. Im Dezember 1940 gelangten sie auf einem Flüchtlingsschiff von Lissabon nach New York. In Manhattan gründeten Zora und sein Bruder Yura nach dem Kriegseintritt der USA ein erfolgreiches Munitionsgeschäft. Nach dem Krieg boten sie die legendären Ardun-Umrüstsätze für obenliegende Ventile für Fords erfolgreiche V8-Flachkopfmotoren an.
Arkus-Duntov begann schließlich selbst mit dem Rennsport, als er 1946 und 1947 versuchte, sich mit einem Talbot-Lago für das Indianapolis 500 zu qualifizieren, was ihm jedoch leider in beiden Jahren nicht gelang. Anschließend wechselte er zu Allard nach England und fuhr für das Team bei den 24 Stunden von Le Mans, zunächst 1952 am Steuer eines Allard J2X Le Mans mit Chrysler-Motor zusammen mit Frank Curtis und 1953 mit Ray Merrick in einem Allard J2R mit Cadillac-Motor. Leider kam er in beiden Jahren aufgrund mechanischer Defekte nicht ins Ziel. Porsche wurde auf Arkus-Duntovs Talent aufmerksam und bot ihm 1954 einen Platz im Porsche 550/4 RS Spyder an; er und Gonzague Olivier errangen einen Klassensieg und den 14. Gesamtrang. Arkus-Duntov bestritt 1955 seinen letzten Auftritt in Le Mans und fuhr erneut für Porsche, diesmal mit Auguste Veuillet in einem Porsche 550 RS Spyder. Das Team errang einen Klassensieg und belegte den 13. Gesamtrang.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
Arkus-Duntov brachte eine andere Perspektive bei Chevrolet und das Corvette-Team ein, die Innovation und Leistung in den Mittelpunkt stellte. Die erste Version der Corvette sah zwar großartig aus, aber es fehlte ihr an echtem Sportwagenfeeling und Leistungsfähigkeit. 1955, nachdem die Popularität der ersten Version nachgelassen hatte, sanken auch die Verkaufszahlen – trotz der optionalen Ausstattung mit einem 265-Kubikzoll-V8 und einem optionalen synchronisierten Dreigang-Schaltgetriebe. Die Corvette schien bei den GM-Managern auf der Kippe zu stehen, und Arkus-Duntov wusste, dass der Schlüssel zu ihrer Rettung darin lag, die Leistungsfähigkeit des Modells durch Leistungstests und Rennen unter Beweis zu stellen.
Am 20. Dezember 1955 erreichte Arkus-Duntov am Steuer einer 1954er Corvette mit einem neuen 307-Kubikzoll-V8 (auf 283 Kubikzoll gesteigert) auf dem GM-Testgelände in Mesa eine Geschwindigkeit von über 250 km/h. Im Januar 1956 steuerte er eine neue 1956er Corvette mit einem V8 und Duntov-Nockenwelle auf der von der NASCAR genehmigten fliegenden Meile in Daytona Beach auf eine Geschwindigkeit von 249,5 km/h und verschaffte der Corvette und ihrem neuen Antrieb damit große Aufmerksamkeit in der Presse. Etwa zu dieser Zeit wurde der amerikanische Fahrer John Fitch als Manager eines werksunterstützten Corvette-Rennteams eingestellt.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
Die 12 Stunden von Sebring 1956 waren das erste große Wettbewerbsrennen für eine Corvette. Fünf Corvettes gingen an den Start, wobei die Raceway Enterprises Corvette Special Nr. 1, gefahren von John Fitch und Walt Hansgen, als Erste ins Rennen ging, vor einem Ferrari 375 Plus auf Platz 2. Die vier anderen C1-Corvettes starteten alle unter den ersten Sieben. Das Rennen erwies sich als Herausforderung, aber die Corvette Special Nr. 1 kam als Neunter in der Gesamtwertung ins Ziel und gewann ihre Klasse. Ferrari dominierte das Rennen mit zwei Scuderia Ferrari 860 Monzas auf den Plätzen 1 und 2, gefolgt von einem Jaguar D-Type auf Platz 3. Enthusiasten und Amateurrennfahrer wurden auf den Erfolg der Corvette aufmerksam, und die Verkaufszahlen zogen an und erreichten fast den Rekordabsatz des Modells aus dem Jahr 1954.
Doch noch fehlte etwas: ein werkseitig unterstützter, speziell gebauter Rennwagen. Chevrolet brauchte einen eigenen, vor allem, wenn man mit Ferrari, Jaguar, Maserati und Aston Martin konkurrieren wollte.
Harley Earl, der legendäre Designer und Schöpfer der Corvette, war einer von Zora Arkus-Duntovs Unterstützern in den Führungsetagen von GM. Er schätzte Arkus-Duntovs Ingenieursbegabung und erkannte – da er die Attraktivität des Rennsports für das Publikum verstand – das Potenzial einer echten Hochleistungs-Corvette.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
Um Duntovs Pläne zu fördern, kaufte Earl von Jack Ensley einen gebrauchten Jaguar D-Type, der 1956 in Sebring den dritten Platz belegt hatte. Er schlug vor, einen Chevrolet-Motor in das Auto einzubauen und damit Rennen zu fahren. Doch Duntov riet ab: Wenn man etwas Besonderes schaffen wolle, müsse man ganz von vorne beginnen – mit einem eigenen, speziell für den Rennsport entwickelten Auto. So entstand Projekt XP-64.
Im Oktober 1956 gab Ed Cole, mittlerweile General Manager der Chevrolet Division, das Projekt frei. Nur ein Fahrzeug sollte entstehen – ein zweites wurde als Testträger mit einfacher Karosserie („The Mule“) aufgebaut. Das finale Fahrzeug erhielt später den Namen Corvette SS – Super Sport.
In einer abgesperrten Ecke des Chevrolet Engineering Center begann Duntov mit einem kleinen Team aus Zeichnern, Ingenieuren und Mechanikern zu arbeiten. Die Timeline war brutal: weniger als fünf Monate bis zum Renneinsatz. Inspiriert von der Rohrrahmenstruktur des Mercedes-Benz 300 SL entstand ein Gitterrohrrahmen aus Chrom-Molybdän-Stahl mit nur 80 kg Gewicht.
Die Vorderachse erhielt Einzelradaufhängung, die Hinterachse eine De-Dion-Konstruktion – damals ungewöhnlich, aber wirkungsvoll für gute Traktion und geringes ungefederte Masse. Die Trommelbremsen vorn und hinten wurden innenbelüftet, mit separatem Unterdruckservo pro Achse. Die Lenkung arbeitete mit Kugelumlaufgetriebe und einer Übersetzung von 12:1.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
Die Karosserie bestand komplett aus Magnesium. Sie war flach, windschnittig und vorn wie hinten aufklappbar – ideal für schnellen Zugang bei Rennpausen. Ein gezahnter Kühlergrill zitierte das Serienmodell. Die Instrumente im Cockpit waren auf Rennbetrieb ausgelegt. Das Fahrzeug wog nur 840 kg – fast 450 kg weniger als eine Serien-Corvette.
Der Motor war ein experimenteller 283-ci-V8 mit über 300 PS. Eingesetzt wurde das neue Ramjet-Kraftstoffeinspritzsystem, das mit zwei elektrischen Pumpen aus einem 43-Gallonen-Tank versorgt wurde. Aluminium-Zylinderköpfe, Magnesium-Ölwanne, ein Vierganggetriebe mit Synchronisation, ein Schnellwechsel-Differenzial – alles war auf Leistung, Leichtbau und Reparierbarkeit ausgelegt.
Noch vor dem Renneinsatz testete man alle Komponenten im „Mule“. Fangio und Moss waren bei den Tests in Sebring dabei. Beide fuhren sofort schnellere Runden als die Werks-Jaguars des Vorjahres. Duntov hatte sein Ziel erreicht: Die Corvette SS war bereit.
Am 22. März 1957 traf die Corvette SS in Sebring ein – buchstäblich in letzter Minute. John Fitch und Piero Taruffi waren die Fahrer. Taruffi war eine italienische Rennlegende, der wenig später die letzte Mille Miglia gewinnen sollte. Schon beim Training fiel auf: Die Geschwindigkeit war da. Doch auch die Kinderkrankheiten.
Die Bremsen überhitzten, die Elektrik fiel aus, und das Cockpit war durch die Magnesiumkarosserie so heiß, dass Teile weggeschnitten werden mussten. Nach nur 23 Runden schied das Auto mit einer gebrochenen Aufhängungsbuchse aus. Trotzdem war klar: Das Fahrzeug war konkurrenzfähig. Ed Cole zeigte sich zufrieden: Man habe unter realen Bedingungen getestet und viel gelernt.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
Was dann kam, war ein Schock: Am 6. Juni 1957 beschloss die Automobile Manufacturers Association (AMA), dass US-Hersteller keine werkseitige Rennunterstützung mehr leisten sollten. Das Projekt XP-64 war damit sofort beendet. Alle Planungen für Le Mans wurden gestoppt. Und doch: Das Auto selbst war nicht tot.
Zora Arkus-Duntov ließ den XP-64 nicht untergehen. Während GM normalerweise alle Prototypen verschrotten ließ, spielte er Katz-und-Maus mit der Buchhaltung: Er parkte den Wagen in verschiedenen Gebäuden, versteckte ihn „außerhalb des Lagerbestands“ und hielt ihn aus den Inventarlisten fern. Der „Mule“ – das Testfahrzeug – landete später bei GM-Designer Bill Mitchell und wurde zur Basis des XP-87 Stingray Racer. Damit legte er die stilistische Grundlage für die zweite Corvette-Generation (C2), die ab 1963 das Licht der Welt erblickte.
Die SS hingegen war Zoras Herzensprojekt – zu wertvoll zum Vergessen. 1959 schleuste er den XP-64 auf das Testgelände von GM in Arizona und erreichte eine beeindruckende Geschwindigkeit von 294 km/h. Weitere Auftritte folgten: 1959 bei der Eröffnung des Daytona International Speedway, 1962 beim Corvette Club Meeting in New York. Doch eine dauerhafte Lösung musste her.
1967 wandte sich Duntov an Anton „Tony“ Hulman Jr., den damaligen Besitzer des Indianapolis Motor Speedway. Am 29. Mai, während der Rennwoche des Indy 500, übergab er persönlich die Corvette SS an das Museum – als Schenkung. Der Wagen blieb dort die nächsten Jahrzehnte, wurde regelmäßig gezeigt, restauriert und in vielen Sammlungen und Publikationen verewigt.

1957 Chevrolet Corvette SS Project XP-64/ Foto: RM Sotheby´s
In den 1980er Jahren wurde der Wagen überarbeitet: Neue Lackierung, neues Cockpit, eine tiefgezogene Lexan-Windschutzscheibe und überholte Felgen. 1987 kehrte die Corvette SS nach Monterey zurück – zur Jubiläumsfeier „75 Jahre Chevrolet“. John Fitch fuhr eine Paraderunde, Duntov war als Ehrengast dabei. Auf dem Rückweg machte er Halt auf dem GM-Testgelände in Milford – angeblich um „zwei Runden zu fahren“. Es wurden deutlich mehr.
In den folgenden Jahren war die Corvette SS bei zahlreichen Anlässen zu sehen: 1994 bei der Eröffnung des National Corvette Museum, 2002 bei den Monterey Historics, 2010 bei der Aufnahme in die „Bloomington Gold Great Hall“. 2014 erlitt der Motor während Paraderunden beim SVRA Brickyard Invitational einen Schaden: Zwei Pleuelstangen brachen wegen Ölmangels. Später stellte sich heraus, dass es sich ohnehin nicht mehr um den Originalmotor handelte. Ein passender V8 von 1957 wurde beschafft und eingebaut.
2022 wurde das Fahrzeug erneut gezeigt – zusammen mit elf weiteren historischen Corvette-Konzepten beim Lime Rock Park Historic Festival. Es war das erste Mal, dass alle zwölf Fahrzeuge gemeinsam auftraten.
Im Februar 2025, fast sieben Jahrzehnte nach seiner Geburt, wurde die Chevrolet Corvette SS XP-64 erstmals öffentlich verkauft. RM Sotheby’s versteigerte sie in Miami Der Verkaufspreis: 7.705.000 US-Dollar.
Damit wechselte ein einzigartiges Stück Automobilgeschichte den Besitzer – ein Einzelstück, das nie für den Verkauf gedacht war, aber zur Ikone wurde. Ein Fahrzeug, das vielleicht nie gewinnen durfte, aber allen zeigte, was möglich gewesen wäre, wenn man Duntov nur hätte machen lassen.
Die Corvette SS XP-64 ist nicht einfach ein Prototyp. Sie ist der verdichtete Traum eines Mannes, der nie aufgegeben hat. Ein Leuchtturm amerikanischer Ingenieurskunst, eine technische Antwort auf Ferrari und Jaguar – und das schönste „Was wäre wenn?“ der Corvette-Geschichte.
FOTOS: RM Sotheby´s