Lamborghini Manifesto: Wie Form entsteht
Der Manifesto von Lamborghini ist ein Denkprozess gegossen in Aluminium – und eine gute Gelegenheit, über die Mechanik des Autodesigns zu sprechen. Denn während andere Marken ihre Konzeptstudien als Marketinginszenierung präsentieren, nutzt Lamborghini sie als Werkzeug, um den eigenen Entwurfsprozess offenzulegen. Wer verstehen will, wie ein Sportwagen entsteht, muss begreifen, wie Designer denken, entscheiden und verwerfen.
Der Weg von der Idee zur Form beginnt im Centro Stile in Sant’Agata Bolognese. Dort, wo das Licht hart und die Kanten scharf sind, entstehen alle modernen Lamborghinis – vom Murciélago bis zum Revuelto. Seit 2016 leitet Mitja Borkert das Designzentrum. Seine Philosophie ist einfach: Alles beginnt mit einer Linie. Sie definiert Haltung, Spannung und Proportion. Bevor ein Motor oder ein Fahrwerk existiert, steht eine Silhouette, die das Wesen des Fahrzeugs vorgibt. Design ist bei Lamborghini keine nachträgliche Verkleidung der Technik, sondern ihr Ausgangspunkt.
Das war nicht immer so. In den ersten Jahrzehnten vertraute Lamborghini auf externe Designhäuser – legendäre Namen wie Bertone, Italdesign und Marcello Gandini prägten das Erscheinungsbild der Marke. Der Miura, der Countach und der Diablo entstanden außerhalb des Werksgeländes, in Studios, die für viele Hersteller gleichzeitig arbeiteten. Lamborghini lieferte die technische Basis, das Design kam von außen. Das hatte Vorteile, aber auch Grenzen: Die kreative Handschrift wechselte mit jedem Projekt. Erst unter Audi begann die Marke, ihre visuelle Identität zu zentralisieren. 2004 wurde das Centro Stile gegründet – als Reaktion auf die Erkenntnis, dass Design zur DNA gehört und nicht ausgelagert werden darf. Seitdem entstehen alle Modelle im eigenen Haus.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Am Anfang eines Projekts steht ein Briefing. Es beschreibt grob, was das Auto sein soll: Mittelmotor oder Frontmotor, zwei oder vier Sitze, Hybrid oder vollelektrisch. Dazu kommen aerodynamische Vorgaben, Sicherheitsnormen und das Package – also der technische Grundriss mit Radstand, Achsgeometrie und Bauraum für Batterien oder Verbrenner. Doch das wichtigste Dokument ist unsichtbar: die Marken-DNA. Lamborghini arbeitet mit wiederkehrenden formalen Codes – der Y-Signatur der Leuchten, der sechseckigen Geometrie, der flachen Dachlinie. Diese Elemente müssen in jedem Entwurf enthalten sein, sonst verliert das Design seine Zugehörigkeit.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Die Skizze ist der Beginn. Trotz 3D-Software und Echtzeit-Rendering zeichnen Designer immer noch mit Stift oder Stylus. Eine gute Skizze ist keine exakte Konstruktion, sondern eine Geste, ein Gedanke über Proportion und Bewegung. Erst danach folgen digitale Renderings, mit denen man Licht, Schatten und Perspektive prüfen kann. Das Ziel ist nicht Perfektion, sondern Emotion. Wenn die Form im Kopf funktioniert, kann sie in 3D überprüft werden.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
In der nächsten Phase entsteht das sogenannte Clay Model. Es wird zunächst im Maßstab 1:4 gebaut, später als 1:1-Modell. Dieser Zwischenschritt hat auch im Zeitalter von Virtual Reality seinen Wert. Nur im realen Licht sieht man, wie Flächen reagieren, wo sich Reflexe brechen, wo Linien zu hart wirken. Lamborghini arbeitet mit Präzision: Jede Fuge, jede Schichtdicke, jeder Übergang wird diskutiert. Designer, Ingenieure und Produktionsplaner treffen sich regelmäßig, um Proportionen und Machbarkeit zu prüfen

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Die wichtigste Besprechung ist das Design Review. Dort steht das Modell auf einer Drehscheibe, umgeben von Entscheidungsträgern. Es ist der Moment, in dem ein Auto seine Richtung bekommt oder gestoppt wird. Oft entscheidet der CEO selbst über den Entwurf. Nicht selten kehrt das Projekt danach an den Anfang zurück. Diese Schleifen gehören dazu – sie sind Teil der DNA der gesamten Industrie. Kein Serienauto gleicht seiner ersten Studie.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Nach der Auswahl wird das Design digitalisiert. Oberflächen werden parametrisiert, in virtuelle Umgebungen übertragen und durch Simulationen geprüft. Hier treffen sich Ästhetik und Physik. CFD-Analysen (Computational Fluid Dynamics) zeigen, wie die Luft über die Karosserie strömt. FEM-Berechnungen (Finite Elemente Methode) testen die strukturelle Stabilität. Gleichzeitig prüfen Ingenieure, ob Bauraum und Proportionen mit Kühlern, Lenkung oder Crashstrukturen kompatibel sind. Der Entwurf lebt in einem permanenten Spannungsfeld zwischen Schönheit und Funktion.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Während früher fast ausschließlich physische Modelle in Windkanälen getestet wurden, übernehmen heute digitale Zwillinge diese Arbeit. Änderungen, die früher Wochen dauerten, können in Stunden eingepflegt werden. Das beschleunigt nicht nur den Prozess, sondern verändert auch die Dynamik im Team. Designer und Aerodynamiker sprechen dieselbe Datensprache. Trotzdem bleibt das Bauchgefühl entscheidend. Kein Algorithmus ersetzt das Auge des Gestalters.

Lamborghini Manifesto/Foto: Lamborghini
Aus dem digitalen Modell wird schließlich ein Prototyp. Zuerst ein nicht fahrfähiges Showcar, dann ein funktionaler Versuchsaufbau. Die Übergänge sind fließend. In dieser Phase werden Innenraum und Ergonomie definiert. Materialien, Haptik, Positionen der Displays, Sichtachsen – alles wird unter realen Bedingungen getestet. Danach folgt die Validierung: Belastungstests, Crashversuche, Temperaturzyklen. Design ist hier längst Teil des Ingenieurprozesses. Jede Veränderung an der Technik wirkt sich auf die Form aus, jede Designentscheidung auf die Kühlung, Akustik oder Crashstruktur.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Lamborghini hat diesen Ablauf perfektioniert. Das Centro Stile ist keine isolierte Kreativinsel, sondern integraler Bestandteil der Entwicklung. Täglich laufen dort 3D-Modelle aus der Technik ein, die visuell überprüft werden. Gleichzeitig liefert das Designstudio Input an die Produktion, um sicherzustellen, dass Formen auch in der Fertigung realisierbar bleiben. Das Ergebnis sind Autos, deren Linien nie zufällig entstehen. Jede Kante hat eine technische Begründung, jeder Lufteinlass eine Funktion.

Lamborghini Manifesto/Foto: Lamborghini
Der Manifesto zeigt, wie dieser Prozess aussieht, wenn man ihn von allen Zwängen befreit. Keine Normen, keine Zulassung, keine Kosten. Nur reine Form. Die Designer konnten mit Proportionen spielen, die im Serienbau kaum denkbar wären. Kein sichtbarer Türmechanismus, keine Spiegel, keine Rücksicht auf Ein- oder Ausstieg. Das Fahrzeug wirkt wie ein destillierter Gedanke über Bewegung. Gleichzeitig demonstriert es, wohin sich die Sprache von Lamborghini entwickelt: stärker skulptural, flächiger, mit weniger Linien, aber mehr Spannung.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Im Vergleich zur Vergangenheit hat sich der Prozess kaum verändert, wohl aber die Werkzeuge. Früher stand ein Modell monatelang im Atelier, heute entstehen Varianten parallel am Bildschirm. Wo früher Tonspachtel geschliffen wurde, laufen heute Algorithmen für Reflexionsanalyse. Doch der Rhythmus bleibt derselbe: Skizzieren, prüfen, verwerfen, neu beginnen. Die Digitalisierung hat den Ablauf beschleunigt, aber nicht ersetzt. Auch der modernste Rendering-Rechner kann nicht entscheiden, ob eine Linie Begehrlichkeit auslöst.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Was sich ebenfalls geändert hat, ist die Hierarchie. Früher gaben Designer Entwürfe an Ingenieure weiter, heute arbeiten sie gleichzeitig. Die Grenzen zwischen Gestaltung und Technik verschwimmen. Das gilt für alle großen Hersteller – von BMW bis Ferrari. Elektrifizierung und Softwareintegration erzwingen diese Nähe, weil Proportionen und Packaging durch Batterien, Kühlsysteme und Sensoren anders definiert werden. Der Designer entwirft heute keine reine Form, sondern eine Schnittstelle zwischen Maschine, Mensch und Software.

Automobili Lamborghini Centro Stile Team/Foto: Lamborghini
Dennoch bleibt Design ein emotionaler Akt. Jedes Fahrzeug beginnt mit einem unlogischen Impuls – einem visuellen Ziel, das erst später rationalisiert wird. Der Designer denkt nicht zuerst in Millimetern, sondern in Haltung. Erst danach kommt das Rechnen. Dieses Prinzip gilt seit den Tagen von Marcello Gandini, dem Schöpfer des Miura und Countach, und es gilt noch heute im Zeitalter von CAD und CFD.

Lamborghini Manifesto/Foto: Lamborghini
Der Manifesto ist also weniger Zukunftsvision als Erinnerung daran, dass Gestaltung bei Lamborghini immer den Ausgangspunkt bildet. In Sant’Agata beginnt jedes Projekt mit einer Linie, nicht mit einem Lastenheft. Die digitale Revolution hat diesen Prozess beschleunigt, aber nicht entmenschlicht. Am Ende entscheidet noch immer ein Blick, ein Gefühl, ein Moment von Klarheit. Vielleicht ist das die eigentliche Lehre dieser Designstudie: Technik kann berechnen, was funktioniert – aber nur der Mensch sieht, was bleibt.
Fotos: Lamborghini